Festrede zur Eröffnung des
Via Iulia Augusta Kultursommers 2025
am 11. Juli 2025 im Landhaus Sonnleitner in Mauthen
„Erinnern – Verinnerlichen – Weitergehen“
Die Journalistin Antonia Gössinger spricht über Erinnern und Verdrängen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Kärnten und spannt einen Bogen in die Gegenwart.
Sehr geehrter Herr Landeshauptmann Peter Kaiser,
sehr geehrte Frau Intendantin Helga Pöcheim,
geschätztes Team des Via Iulia Augusta Kultursommers und
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter aus den Gemeinden Kötschach-Mauthen,
Oberdrauburg und Dellach im Gailtal, die sie gemeinsam dieses Festival tragen,
sehr geehrte Damen und Herren!
Gemeinsam, Insieme, skupno – ist der dreisprachige und drei Regionen umfassende Bogen, den Sie heuer zum 14. Mal über ein sehr anspruchsvolles Kulturprogramm spannen. In diesem Jahr, in dem bedeutsamer Ereignisse gedacht wird, haben Sie den Via Iulia Augusta Kultursommer unter das Motto „Sichtungen“ gestellt. 80 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges, 70 Jahre Staatsvertrag und 30 Jahre EU-Beitritt eröffnen viele Facetten, das Vergangene zu sichten. Das Land Kärnten macht das, es hat heuer das „Jahr der Erinnerungskultur“ ausgerufen. Dankenswerterweise!
Bis hierher ins Jahr 2025, in dem Erinnerungs- und Gedenkkultur als selbstverständliche Verpflichtung des Landes Kärnten gelebt wird, war es ein weiter Weg. „Der Weg ist das Ziel“, dieses Wort des chinesischen Philosophen Konfuzius, war der stille Begleiter eines eigentlich über 100 Jahre dauernden schmerzhaften Prozesses – seit der Volksabstimmung am 10. Oktober 1920 – bis die Kärntnerinnen und Kärntner beider Landessprachen einander als versöhnt begegnen.
„Der Weg ist das Ziel“. Niemand weiß besser als Sie hier im Oberen Gailtal und im Drautal, was es bedeutet, wenn ein Weg abgeschnitten ist. Welche Mühe es bedeutet, ihn wieder befahrbar, begehbar zu machen. Deshalb darf das Jahr 2025 mit seinen wichtigen Jahrestagen nicht als Endpunkt angesehen werden, sondern als Auftrag, den Weg des Erinnerns und Gedenkens, den Weg der Gemeinsamkeit, der Verständigung und des Zusammenrückens weiterzugehen, im eigenen Land, grenzüberschreitend mit den Nachbarn und darüber hinaus.
„Erinnern – Verinnerlichen – Weitergehen“ – dieser Schwerpunkt Ihres Kultursommers wurde mir von Frau Intendantin Helga Pöcheim als Thema für diese Rede gesetzt, mit dem Wunsch, „ich möge mit journalistischem Blick auf die Entwicklungen“ schauen, auf das, was im Land geschehen ist. Seit fast 50 Jahren bin ich als politische Journalistin Zeitzeugin für die landespolitischen Entwicklungen. Den größten Teil meines bewussten Wahrnehmens war in Kärnten das Verhältnis zwischen der deutschsprachigen Mehrheitsbevölkerung und der slowenisch sprachigen Volksgruppe von Streit geprägt, vom Streit über Ortstafeln, Amtssprache, Bildungseinrichtungen und Förderungen. Bis endlich im Jahr 2011 mit der Einigung über das Ortstafelgesetz der Gordische Knoten durchschlagen wurde. „Der Weg ist das Ziel“. Möge man den Weg der Sichtbarmachung der Volksgruppe über das Vereinbarte hinaus weitergehen, wie dies in einzelnen Gemeinden erfreulicherweise der Fall ist. Denn die Verpflichtungen gegenüber der Volksgruppe, die Österreich mit dem Staatsvertrag 1955 eingegangen ist, sind unzureichend erfüllt. So ehrlich müssen wir sein.
Die dramatischen Ereignisse, die dem Volksgruppen-Streit auch zugrunde liegen, haben sich nicht nur dem journalistischen Blick, sondern auch der breiten Kärntner Öffentlichkeit erst nach und nach eröffnet. Nämlich: Die Aussiedelung und Verfolgung der Kärntner Slowenen im Zweiten Weltkrieg auf der einen Seite und die mit dem Begriff „Kärntner Urangst“ beschriebene Sorge um die Landeseinheit nach den Überfällen auf Kärnten und Gebietsansprüche des südlichen Nachbarn nach beiden Weltkriegen.
Erst nach und nach hat sich eröffnet, wie sehr die vergangenen Ereignisse nachwirken, wie sehr sie in Familien nachwirken, wie sehr Einstellungen und Haltungen von den, lange zurückliegenden, Ereignissen beeinflusst werden, bewusst oder unbewusst. Maja Haderlap, Kärntner Slowenin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin, hat mit ihrem Buch „Engel des Vergessens“ Vieles sichtbar gemacht. Und vor allem hat die Konsensgruppe in jahrelanger Vorarbeit nicht nur den Weg für die Ortstafellösung geebnet, sie hat gegenseitiges Vertrauen auf- und Misstrauen abgebaut. Weil Marjan Sturm und Josef Feldner einander zugehört haben, Sturm, dessen Familie ausgesiedelt war und dessen kleine Schwester im Lager gestorben ist, und Feldner, der den Ortstafelsturm mit entfacht hat. Heute sind Sturm und Feldner Freunde.
Reden und Zuhören sind die Schlüssel für gegenseitiges Verstehen. Das sollten wir uns heute tagtäglich vor Augen führen, in einer Zeit, in der nicht mehr miteinander geredet wird, sondern übereinander geurteilt wird, und dies vorzugsweise im Internet.
Damals wurde wenig geredet über die schrecklichen Ereignisse, in den Familien, auf beiden Seiten. Es wurde Vieles verschwiegen. Aus Angst. Ohnmächtiges Verschweigen, um das Geschehene und Erlebte zu verdrängen. Es gibt Beispiele von alten, dementen Menschen, die plötzlich Slowenisch gesprochen haben. Mitunter zur Überraschung der eigenen Familie, die erst am Kranken- oder Sterbebett erfahren hat, dass ihre Angehörigen ein Leben lang ihre Muttersprache verleugnet und dies den Nachkommen verschwiegen haben, um diese nicht der Gefahr der Diskriminierung auszusetzen.
Die Angst vor Verfolgung ist die „Urangst“ der slowenischen Landsleute. „Die Angst, dass uns unsere Kultur und unsere Identität genommen wird“, so hat es mir ein Kärntner Slowenen erst in diesen Tagen gesagt. In Vorbereitung auf diese Rede habe ich mich intensiv mit kollektiven, individuellen und transgenerationalen – also die Generationen übergreifenden – Traumatisierungen beschäftigt, ich könnte ihnen jetzt ein wissenschaftliches Referat darüber halten.
Ich werde es nicht tun, sondern Ihnen von Menschen erzählen. Wie von einem deutschsprachigen Gesangsverein und einem slowenischen Kulturverein in einem Ort im Süden von Klagenfurt. Der slowenische Kulturverein lädt zu seinen traditionellen Veranstaltungen am Nationalfeiertag regelmäßig den deutschsprachigen Gesangsverein ein. Dieser hat die Einladung noch nie angenommen. Für mich, die ich aus dem Glantal stamme, war dies nicht nachvollziehbar. Bis ich die Familien-Geschichten gehört habe, die schwer von Partisanen-Überfällen geprägt sind.
Die Partisanen haben in Südkärnten, in den tiefen Seitentälern der Karawanken gekämpft. Sie haben sich 1941 in Slowenien formiert, die sogenannten Tito-Partisanen. Ihnen haben sich slowenische Kärntnerinnen und Kärntner angeschlossen. Jene, die der Aussiedlung entkommen sind. Haben die Partisanen für Jugoslawien, haben sie für Österreich gekämpft? Bis heute ist die Geschichte der Partisanen eine umstrittene, vor allem deshalb, weil sie Gräueltaten begangen haben. Der Kampf der Partisanen in Südkärnten wird heute aber auch als einziger bewaffneter Widerstand gegen den Faschismus und gegen Hitler-Deutschland offiziell anerkannt und gewürdigt.
Ich erzähle Ihnen von Menschen. Wie von einem früheren Politiker in einer Südkärntner Gemeinde, dessen Großvater von den Partisanen erschossen wurde. Weil der Großvater mutmaßlich Nationalsozialist war. Die genauen Umstände kennt mein Gesprächspartner nicht, weil auch in seiner Familie nicht geredet wurde. Er hat aber seiner Mutter, der Tochter des Erschossenen, versprochen, Distanz zu den slowenischen Mitbürgern zu halten und nie zu einer Gedenkfeier auf den Persmanhof zu gehen. Er hält dies bis heute ein. Seine erwachsenen Kinder interessiert die Geschichte nicht. So sieht er in seiner Familie das düstere Kapitel mit ihm geschlossen.
Abschließen mit der Geschichte? Nein, für die Angehörigen der Familien Sadovnik und Kogoj ist das unmöglich. Elf Menschen aus ihren Familien, vier Erwachsene und sieben Kinder, wurden am 25. April 1945 am Persmanhof ermordet. Drei Kinder haben das Massaker überlebt. Sie hatten ein schweres Leben, denn Traumatherapien hat es für Opfer des Krieges, auf welcher Seite immer die Opfer waren, nie gegeben. Auch wenn sie irgendwann später als Opfer anerkannt wurden. Ob Menschen, die aus religiösen Gründen den Dienst an der Waffe verweigert haben, ob jüdische Menschen, Angehörige von Minderheiten und Volksgruppen oder homosexuelle Menschen.
Der Persmanhof ist ein Identifikationsort für die slowenische Volksgruppe, ein Symbol dafür, was ihr angetan wurde. 227 Familien wurden 1942 von ihren Höfen vertrieben und in deutsche Lager ausgesiedelt. Der Persmanhof ist aber auch ein Symbol für den Widerstand in einem wahnsinnigen Krieg. „Es hat sich niemand aussuchen können, wo er hingestellt wurde“, sagte mir ein Gesprächspartner, der sich jetzt der Aufarbeitung der einzelnen Familiengeschichten verschrieben hat. Wer vor der Aussiedlung flüchten konnte, musste sich im Wald verstecken und wurde von den Partisanen rekrutiert, darunter viele Frauen. Männer sind von der Front auf Heimaturlaub gekommen, wo sie in der deutschen Wehrmacht gekämpft haben, und ihre Familien waren weg. Auch sie sind in den Wald gegangen. Wer die Partisanen mehr oder weniger freiwillig mit Essen unterstützt hat, landete in Dachau. Wie der Vater der Kogoj-Kinder, der am Persmanhof ermordet wurde. Die Frau und Mutter war in den Wald geflohen, wurde Partisanin. „Wir wollen nicht immer nur als Opfer gesehen werden, sondern wir wollen Gerechtigkeit“, sagt ein Nachkomme der Persamhof-Familie. Denn zu einer Anklageerhebung oder Verurteilung durch die österreichische Justiz ist es nie gekommen. Obwohl die Angehörigen jener Kompanie, die das Massaker angerichtet haben, namentlich bekannt sind.
Diese Beispiele von Menschen zeigen: Es braucht fortwährende Verständigung.
Abschließen mit den vergangenen Geschehnissen, nein, das geht nicht.
Landeshauptmann Peter Kaiser hat es kürzlich gesagt: Vergeben und verzeihen ja, auch wenn das schwer genug ist, aber niemals vergessen.
Als in den 1980-er- und 1990-er-Jahren mit der Aufarbeitung der Geschichte begonnen wurde, kam für unsere Generation die Zuschreibung auf, wir hätten „die Gnade der späten Geburt“. Damit ist gemeint, dass die Nachkriegsgeneration das Glück hatte, nicht entscheiden zu müssen, auf welcher Seite man gestanden wäre. Wenn man überhaupt entscheiden hätte können, ob man in den Widerstand geht oder gezwungenermaßen Teil der Kriegsmaschinerie wird oder sich freiwillig in den Dienst einer menschenverachtenden Ideologie stellt.
Wir sind in einer Zeit aufgewachsen, in der es immer aufwärts ging. Wirtschaftlich, beruflich, persönlich, die letzten Jahrzehnte waren Jahrzehnte der Erfolgsgeschichten. Auch politisch. Wir können wohl alle noch diese ikonischen Bilder in uns wachrufen, die Aufbruch und Wendepunkte bedeutet haben. Wie Alois Mock und der ungarische Ministerpräsident Gyula Horn im Juni 1989 den Eisernen Vorhang durchschnitten haben, wie im November 1989 die Berliner Mauer gefallen ist. Wie Alois Mock Brigitte Ederer ein Busserl auf die Wange gedrückt hat, nach dem Österreichs Beitritt zur EU besiegelt war. Wie in Kärnten 68,2 Prozent der Menschen für den Beitritt gestimmt haben, mehr als österreichweit. Und als am 25. September 2001 ein russischer Präsident namens Wladimir Putin im Deutschen Bundestag auf Deutsch eine Rede über ein gemeinsames, friedliches Europa gehalten hat. Damals sahen wir den „Point of no Return“ erreicht, den Punkt, hinter den es nicht mehr zurückgehen würde.
Wir haben uns geirrt. Heute wird in Europa ein furchtbarer Krieg geführt, der europäische Einigungsprozess wir von innen heraus torpediert, maßgeblich von einem ungarischen Ministerpräsidenten, die transatlantischen Beziehungen sind zerrüttet, die Gesellschaften sind gespalten und polarisiert, Hass und Hetze stehen an der Tagesordnung, befeuert durch die Sozialen Netzwerke, die längst Unsoziale Netzwerke sind.
Wir laufen jetzt Gefahr, von der Enkel-Generation und nach nachfolgenden Generationen vorgeworfen zu bekommen, „die Gnade der frühen Geburt“ gehabt zu haben. Weil wir so verantwortungslos leben und handeln. Denn das, was wir heute zulassen, werden die nachfolgenden Generation ernten: eine zerstörte Erde, weil wir nichts gegen den Klimawandel tun? Zerstörte Demokratien, weil wir zu bequem sind, tagtäglich für eine demokratische Gesellschaft einzustehen? Eine Welt, in der Menschenrechte nichts mehr gelten? Eine Welt, in der das Recht der Stärkeren, der Reichen, der Unverschämten gilt? Weil wir zulassen, dass Autokraten, Diktatoren, demokratiefeindliche Investoren und Tech-Milliardäre die Macht übernehmen? Noch können wir hinter diese Sätze ein Fragezeichen setzen. Noch!
Bundespräsident außer Dienst, Heinz Fischer, hat bei der Gedenkfeier des Landes Kärnten am
8. Mai in Klagenfurt gesagt: „Die Demokratie ist stabil, aber sie ist nicht unzerstörbar.“ Man muss jetzt nur in die USA blicken. Helga Emberger, deren Mutter als Widerstandskämpferin von den Nazis hingerichtet wurde, sagte bei dieser Landesfeier am 8. Mai: „Es ist wichtig, Zivilcourage zu entwickeln und aufzupassen, dass der Faschismus nicht wiederaufersteht.“ Widerlegen wir Ingeborg Bachmann, von der der Satz stammt: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“ Deshalb: Es ist an uns, an jedem und jeder Einzelnen von uns, nicht wegzusehen, nicht zuzulassen, dass Feindbilder geschaffen und Menschen zu Sündenböcken gestempelt werden, dass Menschenrechte nichts mehr gelten und Hass und Hetze dauerhaft an die Stelle von Dialog treten.
Erinnern wir uns, was gewesen ist, verinnerlichen wir, welche Lehren daraus zu ziehen sind und gehen wir weiter, grenzüberschreitend, so wie Sie es mit Ihrem Festival machen. „Erinnern, verinnerlichen, weitergehen“. Wie Sie einen schönen Senza confini-Bogen spannen, mit Literatur und Musik.
Musik ist eine Weltsprache, sie braucht keine Übersetzung, so wurde es bei der Eröffnung des Carinthischen Sommer gesagt, dem großen Festival, dessen kleinere Schwester Via Iulia Augusta ist. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit Ihrem Kultursommer, ich bedanke mich, dass ich heuer ein Teil davon sein kann. Und jetzt freue ich mich mit Ihnen die musikalischen Darbietungen der wunderbaren jungen Künstlerinnen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Antonia Gössinger, geboren 30. August 1958, wohnhaft in Liebenfels;
von 2015 bis 2021 Chefredakteurin der Kleinen Zeitung Kärnten & Osttirol
Kolumnistin („Salz & Pfeffer“) und seit ihrer Pensionierung freie Journalistin.
Sie schreibt Kolumnen für verschiedene Medien, ist Obfrau von „Kärntner in Not“ und seit 2023 ehrenamtliche Ombudsfrau des österreichischen Presserates.
Auszeichnungen:
2006 Kurt-Vorhofer-Preis für „persönlichen Mut und eine Anhebung der politischen Kultur“
2007 Sonderpreis des Branchenmagazins „Journalist“ für „Mut“
2009 Concordia Preis für den Einsatz für die Pressefreiheit
2013 Concordia Preis für den Einsatz für die Pressefreiheit gemeinsam mit der Redaktion der Kleinen Zeitung Kärnten
2020 Wehrpolitische Kärntnerin des Jahres, Ehrung durch das Militärkommando Kärnten
2021 Großes Ehrenzeichen des Landes Kärnten